Jack hatte abrupt das Steuer herumgerissen und fuhr nun durch eine kleine Seitenstraße. Beim Abbiegen war der Kollege auf der Rückbank mitsamt dem Gurt zur Seite gerutscht und hing im ersten Moment schief darin. Mein Telefon klingelte und der Chief war dran.
„Ja … Gut wir sind schon auf dem Weg … Ach, jetzt auf einmal? Ja. Ja, wir hoffen das auch, im Interesse aller.“
Ich legte auf und sah Jack an.
„Wir haben wieder Kontakt zum Wagen … leider hat das GPS versagt und er wurde anders geortet.“
Ich schwieg einen Moment und fing mir dafür besorgte Blicke ein.
„Die eingebaute Unfallnotrufeinheit hat ausgelöst. Schwerer Seitenschaden, sagt der Chief, aber er hat noch zwei Einheiten rausgeschickt, lasst uns hoffen, dass es nicht zu spät ist und wir rechtzeitig kommen.“
Mir wurde flau im Magen, ein erneuter Wettlauf gegen die Zeit hatte begonnen und darum fürchtete ich, dass wir nicht rechtzeitig da sein würden. Jack klammerte sich ans Steuer und bog erneut mit scharf quietschenden Reifen ab.
„Eins sag ich dir, Peter, jede Delle und jeden Kratzer, den ich in mein Auto kriege wegen der Engstirnigkeit vom Chief, zahlt er mir.“
Das kleine Auto schüttelte sich und es klang, als ob wir etwas überfahren hatten. Ein Blick in den Rückspiegel offenbarte eine geplättete Katze. Das arme Ding hatte nicht einmal Zeit zum aufschreien gehabt, es war einfach von uns plattgemacht worden, ohne wohl wirklich bemerkt zu haben, was passiert war. Ich hoffte nur, dass es eine wild streunende Katze war und nicht gerade die eines Kindes.
Nach unzähligen zerfetzten Mülltüten, umgefahrenen Mülleimern und schier endlos scheinendem Reifenquietschen kamen wir an der Hafeneinfahrt an und mussten eine Notbremsung hinlegen. An uns schoßen zwei schwarze SUVs vorbei, die umgehend anhielten. Aus dem ersten sprang ein Polizist des SEK und rannte zu uns. Jack war noch schwer am Atmen durch den Schreck und ich ließ das Fenster runter.
„Der Wagen von Paul muss hier sein. Das Notrufsystem hat ausgelöst und den Standort bestätigt, wir müssen nur noch finden, wo er steht.“
Der SEK-Teamleiter nickte und gab mir ein Funkgerät, dann trennten wir uns. Ein Wagen nahm die linke Seite, ein anderer die rechte. Direkt danach kamen zwei Streifenwagen an, die vom Chief geschickten wagen. Wir wiesen sie an, die Durchfahrt zu blockieren, und fuhren langsam los. Quälend lahm fuhren wir den Hafen ab auf der Suche nach Paul und seinem Dienstwagen. Fünf Minuten nichts, zehn Minuten kein Auto zu sehen, dann, kurz darauf, meldete sich einer vom SEK. Sie hatten einen Wagen gefunden mit schwerem Seitenschaden. Umgehend beschleunigten wir und steuerten die gemeldete Position an. Hinter einem Stapel Container fanden wir den Wagen und die wartenden SEK-Leute. Der Wagen war heftig demoliert, etwas Schweres hatte ihn seitlich getroffen und zusammengequetscht. Den Spuren zufolge konnte es ein Container gewesen sein. Im Wageninneren war Blut. Obwohl der Wagen arg beschädigt war, saß niemand darin. Wir suchten systematisch die Umgebung ab. Laut riefen wir nach Paul und kamen wieder beim Auto zusammen. Keine Spur, frustriert hieb ich auf die Kofferaumklappe ein und fluchte.
Kurz darauf war ein Stöhnen zu hören. Wir sahen uns alle an und ich klopfte erneut auf den Kofferaum. Wieder war ein leises Stöhnen zu vernehmen. Sofort nahmen die SEK-Leute Stellung ein und zielten auf den Kofferaum. Der SEK-Leiter nahm ein Brecheisen und hebelte die Klappe auf. Der Kofferaumdeckel knarzte unangenehm und weigerte sich zunächst, aufzugehen. Mit widerlichem Quietschen und Knarren ließ er sich dann doch noch aufstemmen. Die Luft war geladen mit Spannung, unsere Nerven zum Zerreißen gespannt. Wir fanden den vermissten Kollegen kleingerollt im Kofferraum, mit dem Rücken zu uns liegend. Erleichert darüber, ihn gefunden zu haben, zogen wir ihn mit vereinten Kräften heraus und der Schreck fuhr uns in die Glieder. Was wir zuvor nicht hatten sehen können, war, dass er stark blutete. Vorsichtig legten wir ihn auf dem Boden ab und untersuchten ihn näher. Obwohl er stark blutverschmiert war, waren seine Verletzungen anscheinend oberflächlicher Natur. Während Jack den Notarzt verständigte, betrachtete ich die Verletzungen genauer. Paul kam langsam zu sich. Über den Oberkörper verliefen diagonal vier parallele Schnitte, die an die Spuren einer riesigen Pranke erinnerten, auch sein Gesicht zierte eine ähnliche Verletzung allerdings genau in die entgegengesetzte Richtung der Oberkörperverletzung. Mühsam erlangte Paul das Bewusstsein wieder und stöhnte vor Schmerzen.
Die SEK-Leute teilten sich in zwei Gruppen auf. Eine sicherte die nähere Umgebung, die andere stieg in ihren Wagen und machte sich auf die Suche nach dem schwarzen Van. Wir wussten nicht, ob er noch da gewesen war, als wir gekommen waren. Paul war inzwischen wieder völlig bei sich und sah bleich in die Runde der um ihn stehenden Kollegen. Dann stöhnte er auf, als er sich aufrichtete, und begann mühsam zu sprechen.
„Schätze, diesmal war ich zur falschen Zeit am falschen Ort mit der falschen Gesellschaft.“
Er grinste schmerzverzerrt und blinzelte. Es konnte also nicht allzu schlimm um ihn stehen, wenn er es noch schaffte, schlechte Witze zu machen. Wir nickten nur stumm und standen weiter um ihn aufgereiht. Jack, sein Kollege und ich sahen ihn besorgt an.
„Wer hätte gedacht“, fuhr er dann fort, „dass mir ein überdimensionales Plüschhündchen mal das Leben retten würde.“
Verdutzt sahen wir ihn an.
„Paul, was meinen Sie damit?“ fragte ich vorsichtig nach, ich begriff nicht ganz, was er wohl meinte.
„Es war eine Falle. Der Van stand da vorn vor meinem Wagen in kurzer Entfernung. Ich blieb eine Weile im Wagen und beobachtete ihn, als sich nichts regte, stieg ich aus. Direkt danach stand da wie aus dem Nichts plötzlich dieses Riesenvieh, graues, fast weißes Fell, und verpasste mir einen Schlag. Es tat höllisch weh und ich sah runter und sah das Blut, als ich wieder aufsah, sah ich einen Container näherkommen. Dann hab ich mir wieder eine eingefangen und bin halb k.o. gewesen. Ich merkte, wie mich jemand am Bein wegzog und hörte ein lautes Krachen. Das nächste, an das ich mich errinnere war ein lauter Schlag und ein Klopfen. Den Rest der Geschichte kennt ihr ja.“
Erschöpft sah er in die Runde. Ich blickte auf seine Füße, ein Schuh fehlte und das linke Hosenbein war blutig. Alles in allem hatte er großes Glück gehabt, aber ich begriff nicht, warum der Killer ihm das Leben gerettet hatte, nachdem er ihn erst in die Falle gelockt hatte. Noch während ich nachdachte, warum, und wozu das Ganze dienen sollte, kam der Krankenwagen an. Die Sanitäter bestätigten, was wir vermutet hatten. Es sah schlimmer aus, als es war. Die Verletzungen waren nicht lebensgefährlich, nur äußerst schmerzhaft und blutig. Als Paul auf die Bahre gelegt wurde, meldete sich per Funk das zweite SEK-Team. Der schwarze Van war offenbar gefunden worden. Er stand gut versteckt zwischen Lagerhallen und hatte keine Kennzeichen. Wir besprachen noch kurz mit dem Notarzt, dass ab dem Tor ein Streifenwagen dem Transport Geleitschutz geben würde, und machten uns auf den Weg zum Van.
Als wir ankamen, stand er noch unverändert da und wir besprachen das weitere Vorgehen. Im Van selber schien sich nichts zu rühren, dennoch war größte Vorsicht angesagt. Wir beschlossen, aus zwei Richtungen zuzugreifen. Eiligst war der Plan geschmiedet, und so leise es ging, stürmten die beiden Teams los. Wenige Augenblicke später war der Van umringt.
Kurz darauf rissen die SEK-Leute die Hecktüren und die seitlichen Schiebetüren auf und richteten lautstark brüllend die Waffen in den Innenraum. Verdutzt über das, was sie vorfanden, wendeten sie sich direkt wieder ab und hielten sich die Hand vor den Mund, zwei Mann rissen den Helm herunter und kotzten. Das Einzige, was wir aus der Entfernung hörten, war ein gedämpftes „Oh Scheiße“. Die Männer schlossen die Türen wieder, sie waren leichenblass und schüttelten die Köpfe. Ich ging hin und sah sie verwundert an. Als ich wissen wollte, was los war bekam ich nur entsetztes Schweigen als Antwort.
Erbost über die mangelnde Reaktion zog ich die Schiebetür auf. Ein tödlicher Fehler … für meinen Magen. Den Anblick werde ich mein Lebtag nicht vergessen.
Kurze Pause
Ich bitte, die Unterbrechung zu entschuldigen, aber jedesmal, wenn ich mich daran erinnere muss ich mit mir selbst ringen, die Bilder verfolgen mich noch immer.
Ich öffnete die Schiebetür des Vans und sah in den Innenraum. Dort roch es bereits extrem nach Moder und die Luft war abgestanden. Der gesamte Boden war mit eingetrocknetem Blut bedeckt. Es lagen zwei Leichen da. Eine davon war unnatürlich verdreht, als ob mehrere Knochen gebrochen waren. Bei genauerer Betrachtung war zu erkennen, dass es unser „erlöster“ Junkie war. Die andere Leiche lag mit dem Rücken an die Seitenwand gelehnt und wirkte hohl. Sie war im Gesicht bis zur Unkenntlichkeit zerfetzt, und auch der Torso selber war zerfetzt. Die Brustknochen waren sichtbar und unterhalb des Brustkorbs, wo der Bauch gewesen war, klaffte in Streifen ein Loch. Die Gedärme waren herausgerutscht und lagen in seinem Schoß. Mehr wollte ich nicht sehen und war gerade dabei, die Tür zu schließen, als ich eine Bewegung wahrnahm. Noch bevor ich reagieren konnte, knallte es und eine Kugel zischte an meinem Ohr vorbei und schlug auf der Innenseite des Vans ein. Im ersten Moment ließ ich mich fallen, und direkt nach dem Schuß hörte ich einen Ruf „Falscher Alarm!“. Es war Jack, er hatte geschossen und sah erschrocken in den Van. Von dessen Decke baumelte ein Kostüm. Es sollte wohl beim Öffnen der Tür herunterfallen, aber offenbar hatte das nicht so geklappt wie geplant. Im Kostüm war ein Loch und ich betrachtete es genauer. Es war das Kostüm eines grauen Wolfes, genau so ein Kostüm kannte ich. Ich hatte mich am Vorabend mit genau diesem Wolf lange unterhalten. Wir schlossen die Tür und riefen die Spurensicherung. Erst einmal gab es für uns nichts mehr zu tun hier.
Wir ließen den Streifenwagen vom Eingang kommen und uns ablösen. Sollten sie auf unsere Leichen aufpassen und auf das Kostüm des Mörders. Wir brachen nach Eintreffen des Streifenwagens auf und machten uns auf den Weg zur Wohnung unseres Dealers, alle Mann hoch. Noch einmal würde ich das SEK nicht so leicht bekommen, darum entschloss ich mich dazu, selbiges dazu zu nutzen, um die Wohnung des Dealers noch einmal näher zu untersuchen. Unterwegs klingelte mein Handy.
„Ja? Nein, Chief kein weiterer Toter zum Glück. … Ja, er wurde übel zugerichtet, wird‘s aber überleben. … Doch, hätten wir, wenn wir gleich gehandelt hätten. … Nein, es ist mir unerklärlich, aber anscheinend hat der Mörder ihn gerettet … Nein, ich weiß es nicht … Ja, ist gut, ja, werde ich … Was das SEK bei mir macht? Ihre Arbeit, Leben retten, was sonst. NEIN, ich denke nicht dran, ohne die Jungs hätten wir ihn nie gefunden … Ich kann, nun mach ich weiter meine Arbeit“, ich legte einfach auf und schaltete mein Telefon aus.
„Es war der Chief, hat sich aufgeregt darüber, dass sich hier eine SEK-Einheit von 10 Mann Stärke ohne vorherige Erlaubnis der Vorgesetzten eingefunden hat. Manchmal glaub ich, die Wahnsinnigen habens nur so leicht, weil die Bürokratie es so will. Wie lang brauchen wir noch zurück?“, fragte ich, halb sauer, halb erschöpft.
Jack antwortete mir nicht sofort.
„Zehn Minuten …“, kam nach einem Moment des Schweigens. Ich brummte zur Bestätigung und rutschte nervös auf dem Sitz herum.
„Die Hinfahrt war kürzer“, beklagte ich mich geistesabwesend.
„Die Hinfahrt war schneller, hat mich einen Außenspiegel und die Lackierung gekostet, außerdem das Leben einer Katze oder was das war, was wir plattgemacht haben“, schnauzte Jack zurück.
„Tut mir leid, du hast Recht, aber du kriegst dein Auto repariert. Ich rede mit dem Chief darüber nach dem Fall. Du wirst schon sehen, wenn der ganze Hickhack rum ist, ist er auch wieder besser drauf.“