Totgetrollt – Kapitel 1

Es war in Pittsburgh, ungefähr ein halbes Jahr vor meiner Pensionierung. Es war ein Freitag. Ich hatte mir gerade erst im ersten Stock des Polizeipräsidiums einen Kaffee geholt und saß nun in meinem Büro ein Stockwerk darüber. Ich hatte erreicht, was ich wollte, ich war bei der Mordkommission, hatte mein eigenes Büro und einen traumhaften Blick über die Western Avenue, wenn ich den Kopf aus dem Fenster hielt. Keine fünf Gehminuten entfernt stand das College, an dem ich gelernt hatte, und meine Wohnung lag fünf Minuten weiter. Alles sehr schön, bis zu diesem Tag, diesem verfluchten Freitag, anders kann ich ihn nicht nennen. Ich stand gerade am Fenster und blickte in die Western Avenue, als ich plötzlich jemanden rückwärts aus einer kleinen Gasse stolpern sah. Zunächst dachte ich mir nichts dabei, bestimmt nur eine kleine Rauferei zwischen Jugendlichen, die ein Kräftemessen veranstalteten. Ich ließ den Blick weiter die Straße entlanggleiten und wollte gerade das Fenster wieder schließen, als ich jemanden etwas rufen hörte, ich konnte es nicht verstehen, aber es hatte gewiss nicht mir gegolten, sonst hätte der Ruf sich wiederholt. Ich saß gerade am Schreibtisch und hatte mich dazu durchgerungen, den Bericht über den Mord an einem Juwelier vom letzten Monat zu schreiben, als die Tür aufflog und Jack in der Tür stand, unser Jungspund von der Pforte. Er hatte nicht einmal geklopft, sondern war direkt ins Büro gestürmt.
„Sachte, sachte, Jack, die Tür kann nichts für deine Ungeduld. Was kann ich für dich tun …?“
Der arme Junge war bleich und kurzatmig. Nach einer kurzen Pause zum Luftholen sah er mich gequält an und quetschte unter seinem immer noch schweren Atem ein paar Worte hervor: „Mord … nächste … Querstraße …“
Mehr konnte und musste ich nicht verstehen. Blitzschnell schnappte ich mir meine Jacke und stürmte hinaus auf den Flur. Der arme Jack war immer noch außer Atem und musste nun schon wieder rennen.
„Komm, zeig mir, wo …“, forderte ich ihn seelenruhig auf und zog ihn in Richtung der Treppen. Für gewöhnlich nutze ich ja den Aufzug, aber der musste heute gerade gewartet werden. Alles in allem ein ganzer Haufen schlechter Omen, und es sollte noch schlimmer werden. Unten auf der Straße ging Jack die Western Avenue hinauf, und ich sah schon, dass dort bereits Kollegen standen. Es waren drei Polizisten vor Ort, die bereits das Abriegeln übernahmen und Zeugen befragen wollten. Als ich dazukam, standen alle um einen jungen Mann herum, wirkten aber irgendwie lächerlich verloren. Von Mord war zunächst nichts zu sehen. Jack war schon in der kleinen Gasse verschwunden, um sich für mich umzusehen.
„Was geht hier vor?“, fragte ich. „Gehen Sie weiter, Alter, hier gibt‘s nichts zu tun für Sie und wird‘s auch nicht. Sag deinem Chef, er kann sich seinen Schreiberling bei uns abholen …“
Mit diesen Worten wandte er sich an mich, ohne aber zu erkennen, wer ich war. Ein wenig verwundert kratzte ich mich am Kopf und sah den Dreien zu, wie sie den jungen Mann, der bleich und zittrig war, immer wieder anbrüllten. Ich entschied mich, dazwischenzugehen, und erhob meine Stimme zum zweiten Mal.
„Ich hab gefragt, was hier los ist und was ihr Drei hier treibt. Lasst dem Mann doch mal Luft zum Atmen und geht einen Schritt zurück!“
Die ganze Szenerie wirkte sehr konfus auf mich: ein junger Mann kurz vor dem Zusammenbruch, drei Polizisten, die ihn anschrien, und Jack war auch noch nicht zurück.
Der Anführer der drei Polizisten drehte sich um und starrte mich böse an.
„Hören Sie, Mister, ich weiß nicht, wer Sie sind, was Sie wollen, noch was Sie das angeht, was wir hier tun. Wir jedenfalls erledigen hier unsere Arbeit, also würden Sie jetzt gefälligst weitergehen, bitte, und uns in Ruhe …“
Er hatte noch nicht ausgesprochen, als ich ihm das Wort abschnitt: „Wenn Sie das hier arbeiten nennen, haben Sie auf der Polizeischule geschlafen.
Peter Harrison ist mein Name und ich bin der Chef der Mordkommission in Pittsburgh, und wenn es Ihnen recht ist, würde ich sagen, sind Sie vorerst entbunden von ihrer Pflicht zu ermitteln. Sie holen jetzt erst mal Kaffee, damit sie uns aus den Füßen sind. Ihr anderen beiden sorgt dafür, dass die Gasse abgeriegelt wird.“
Wie vom Blitz getroffen sah mich der junge Polizist an und lief los, um Kaffee zu holen, die anderen beiden wichen meinen Blicken aus und machten sich unvermittelt an die Abriegelung der Straße. Jack kam gerade aus der Gasse und sah nicht besser aus als der junge Mann, der vor mir an die Hauswand gelehnt stand und kreidebleich zitterte.
„Peter … da ist alles voller Blut, die ganze Seitengasse voller Blut, aber keine Leiche ….“ Verdutzt sah ich ihn an.
„Wie, keine Leiche mehr?“
Er antwortete mir unsicher, aber bestimmt. „Wenn dort eine Leiche war, ist sie jetzt jedenfalls weg. Es gibt Schleifspuren und jede Menge Blut, aber keine Leiche …“ Jack wurde unterbrochen. Der junge Mann an der Wand brabbelte etwas vor sich hin, von einer fürchterlich zugerichteten Leiche und da sei einer vor seinen Augen gestorben.
Es sei hinzugefügt, dass ich Jack öfter mitnehme auf meine Einsätze, weil er, obwohl frisch von der Polizeischule, bereits mehr erfasst und sieht als ich damals. Er interessiert sich sehr für Forensisches, und darum unterstütze ich ihn gerne.
In der Zwischenzeit kam der dritte Polizist zurück, mit Kaffeebechern in der Hand und der Spurensicherung im Schlepptau.
Reumütig verteilte er den Kaffee an mich, Jack und den mir immer noch unbekannten jungen Mann vor mir. Ehe ich etwas sagen konnte, war er auch bereits bei seinen Kollegen und sperrte das Gebiet weiträumig ab. Ich glaube, er hatte schnell gelernt, dass Übereifer schadet und dass nicht jeder alte Kauz in Lederjacke hinter ihm ein einfacher alter Kauz ist. Das Wichtigste in unserem Job ist immer, mit allem zu rechnen, sonst wird man nicht alt. Ich ließ für den bedauernswerten Zeugen einen Krankenwagen kommen und begab mich zusammen mit der Spurensicherung in die Seitengasse, während Jack auf unseren Zeugen aufpasste.
Auf den ersten Blick war es eine normal wirkende, schäbige kleine Seitengasse einer durchschnittlichen amerikanischen Großstadt. Links und rechts Ziegelsteinwände, dreckig, mit Graffiti überzogen, oben waren kleine schmutzige Wohnungen mit Fenster zur Gasse. Die Anwohner brauchte man hier wohl nicht nach irgendetwas zu fragen, hier bekam nie jemand irgendwas mit. Obwohl es Tag war, herrschte in der Gasse Dämmerung, und es dauerte eine Zeitlang, bis ich etwas klarer sehen konnte. Nach und nach erkannte ich, was hier vorgefallen sein musste. Das helle Rot an den Wänden war nicht die Farbe der Ziegelsteine. Die Graffiti an den Wänden boten einen grellen Kontrast zu den langen Spritzern von Blut dazwischen. In der Gasse war der Boden feucht, aber das war mehr als nur Wasser. Erst jetzt bemerkte ich den beißenden Gestank in der Luft. Eine ekelhafte Mischung aus Blut, diversen menschlichen Ausscheidungen und Halbverdautem. Es dauerte eine Weile, bis ich mich daran gewöhnt hatte und das Ausmaß vollends erkannte. Was auch immer hier passiert war, es war extrem brutal zugegangen. Es gab eine riesige Blutlache in der Mitte der Gasse und die Wände links und rechts waren mit gut zwei bis drei Meter langen Blutspritzern überzogen. Es sah fast so aus, als hätte ein Raubtier die Wände mit seinen Krallen aufgeschlitzt und diese würden nun bluten. Eine Leiche aber fanden wir weder in der Gasse noch in der näheren Umgebung – vorerst.
Ich hatte genug gesehen, verließ den Tatort und ging zum Krankenwagen, vor dem Jack stand und eifrig schrieb.
„Jack, machst du schon wieder meine Arbeit? Junge, deinetwegen krieg ich meine Pensionierung ein halbes Jahr früher, wenn du so weitermachst.“ Grinsend trat ich zu ihm und klopfte ihm auf die Schulter.
„Ach was, Peter, ich hab nur für dich zusammengeschrieben, was wir an Fakten haben. Wir haben einen Toten Mitte dreißig, weiß, verschwunden, eine grauenhaft zugerichtete Gasse mit Unmengen an Blut und einen Zeugen Mitte dreißig namens Sam Nickelson, Reporter bei der „Daily Post“. Dem geht’s übrigens schon wieder zu gut, er will die Exklusivrechte an der Story haben.“
Ich staunte nicht schlecht über das, was Jack bereits von dem Reporter erfahren hatte, doch später, bei der endgültigen Aussage des Zeugen, sollte ich noch mehr staunen.
Der Tag ist fürwahr kein guter Tag. Erst sehe ich jemanden, der hier aus der Gasse kommt und im nächsten Moment wieder verschwindet, dann ein Mord direkt neben dem Revier und zu allem Überfluss ist unser einziger Zeuge ein kleiner Reporter, der die Chance erkannt hat und hoch hinaus will. Dieser Fall wird anstrengend werden, ich sehe das kommen.Mit Kopfschütteln und einem dumpfen Gefühl in der Magengegend ging ich zurück zum Revier. Unterwegs steckte ich mir eine Zigarette an und fing an nachzudenken.
In meiner ganzen Zeit bei der Mordkommission hatte ich viele brutal aussehende Tatorte gesehen, aber dieser hier übertraf alles. Obwohl dieser Tatort so unscheinbar wirkte, waren die Blutspuren ein deutlicher Hinweis darauf, dass hier mit außerordentlich brutaler Gewalt vorgegangen worden war, und auch die Zeichnung der Spuren wies darauf hin, dass etwas Außergewöhnliches vorgefallen sein musste. Egal, wie ich die Sache betrachtete, etwas daran ließ mir einfach keine Ruhe. Gedankenverloren stapfte ich die Treppe hinauf und ging in mein Büro. Dankbar darüber, den Bericht über den Juweliers-Mord jetzt nicht schreiben zu müssen, schob ich ihn beiseite und legte eine neue Akte an.
Viel Ablenkung brachte mir das nicht, aber genug, um meine Gedanken ordnen zu können. Ohne zu wissen warum, griff ich zum Telefon und rief bei der Vermisstenstelle an. Von den Kollegen forderte ich Fotos von weißen Männern Mitte dreißig an, die in den letzten zwei Wochen in Pittsburgh als vermisst gemeldet worden waren. Zwar wusste ich nicht genau, was ich suchen sollte, doch schon das zweite Bild auf meinem Computer ließ mich stutzen. Es war zufällig der jung aussehende Mann, den ich an diesem Vormittag aus der Gasse hatte stolpern sehen und der auch wieder darin verschwunden war. Ich rief seine Akte über den Computer ab und las.
Es handelte sich um einen gewissen Peter Sturz, einen Touristen, der in der Woche zuvor im Hotel für die Anthrocon eingecheckt hatte, einem skurrilen Treffen von Furries, den Liebhabern von Fabeltieren, bei dem sich die Furries selbst gern mit Plüschkostümen verkleiden. Diese „Convention“ fand in dieser Woche statt. Seine Begleitung, Stefanie Sturz, hatte ihn als vermisst gemeldet, nachdem sie das Hotelzimmer verwüstet vorgefunden hatte. Außer ihrem Mann fehlte nichts und sie selber konnte auch nicht mehr Licht in die Sache bringen. Er war begeisterter Anhänger des Furry Fandom und bereits zum fünften Mal auf der Anthrocon, um wieder mit einem neuen Kostüm aufzutreten. Die Kollegen hatten alle Bänder der Überwachungskameras gesichtet, aber nur herausgefunden, dass er das Hotel durch die Tiefgarage verlassen hatte, lebend. Es gab außer einem nervösen Umsehen kein Anzeichen dafür, dass er in irgendeiner Art bedroht wurde.
Man hatte ihn danach nicht mehr gesehen, und dort verlor sich auch seine Spur. Trotz einer Suchaktion blieb er verschwunden, also fügte ich der Akte einen Vermerk hinzu, dass er gesehen worden war, und rief die Kollegen an. Erfreut waren sie nicht über meinen Anruf, das sind sie nie, denn sie leben davon, Leute zu finden, und am liebsten natürlich lebend. Leider können sie nicht immer Glück haben, und so ist es dann auch ihre traurige Aufgabe, die Hinterbliebenen zu verständigen. Glücklicherweise gab es eine DNA–Probe, die seine Frau abgegeben hatte. Ich sprach einige Zeit mit den Kollegen und fand dabei heraus, dass diese Art zu verschwinden bisher ein Einzelfall war. Um sicherzugehen, dass es wirklich so gewesen war, setzte ich mich mit den anderen Hotels in Verbindung, die Gäste für die Anthrocon beherbergten, und ließ mir die Anmeldelisten faxen, doch es wurde niemand sonst vermisst. Nach einer Stunde dann hatte ich alles zusammen und entschloss mich, mich ein wenig umzuhören.
Das Hotel lag etwa 20 Autominuten entfernt von der Western Avenue, also nahm ich mir die Bilder des Herrn Sturz mit und setzte mich in meinen Wagen. Obwohl es ein alter Chevrolet Monte Carlo war, leistete er mir bessere Dienste als die neueren Modelle, die alle paar Wochen irgendein Problem hatten. Nach der kurzen Fahrt zum ersten Hotel hatte ich das Gefühl, eine andere Welt zu betreten. Als ich dort angekommen war, stand ich bereits inmitten einer Ansammlung von Furries. Es war alles vertreten, was ich erkennen konnte. Zu sehen waren Wölfe in unterschiedlichen Formen, die neben Füchsen, Löwen, Waschbären, Erdmännchen und anderen Tieren umherliefen. Ich hatte einiges erwartet, aber das hier übertraf meine Vorstellung bei Weitem. Ich kratzte mich am Kopf, seufzte und stürzte mich in die Arbeit.
Zunächst sprach ich einen frech grinsenden Fuchs an, dem es offenbar wichtig war zu schweigen. Erst nachdem ich ihm lang und breit klargemacht hatte, wer ich war und warum ich hier war, ließ er weniger gut gelaunt verlauten, dass ein Furry im Kostüm nicht spricht. Mehr als diese Auskunft wollte oder konnte er nicht geben.
Ich entschloss mich, etwas anderes zu probieren. Ich ließ über das Hotel den Gästen eine Nachricht zukommen, dass sie sich am Abend zu einer Informationsveranstaltung im großen Veranstaltungssaal einzufinden hatten. Widerwillig ließ sich der Hoteldirektor dazu breitschlagen, nachdem ich ihm mitgeteilt hatte, was passieren würde, wenn er mich in meiner Arbeit behinderte. Ein Aufgebot an Streifenwagen und Polizeikräften sprengt jede Party und versaut den guten Ruf. Zeugen sind schließlich dazu da, befragt zu werden.
Bis zur Abendveranstaltung hatte ich noch eine knappe Stunde Zeit, und so beschloss ich, mich in der näheren Umgebung umzusehen. Direkt beim Verlassen des Hotels fielen mir gegenüber kleine Transparente auf sowie kleinere Ansammlungen von Menschen. Da aus der Beschriftung der Transparente nicht klar hervorging, was sie wollten, ging ich rüber und begann mich unter den dort versammelten Pittsburghern umzuhören. Ziemlich schnell kristallisierte sich dabei heraus, dass die Leute gegen die Veranstaltung demonstrierten, und das, wie jedes Jahr, ohne Erfolg.
Die Stimmung war gereizt und mir war klar, dass jeder, der hier war, einen Grund hatte, die Veranstaltung irgendwie zu stören oder in sonst einer Art und Weise zu sabotieren. Ich suchte mir den am wildesten gestikulierenden Mann heraus und stellte mich vor. Nach einem kurzen, aber heftigen Wortwechsel sagte er etwas, das mich nachdenklich werden ließ. Er sagte wörtlich: „Es ist kein Verlust, wenn einer von denen da nicht mehr hier ist, aber wenn Sie einen Mörder suchen, dann nicht bei uns. Wir haben den nicht umgebracht, aber fragen Sie doch mal den Grauen, der hört viel, wenn der Tag lang ist.“

Mit diesen Worten ließ er mich stehen. Ich steckte mir nachdenklich eine Zigarette an und steuerte das Hotel an. Wenn mir jemand helfen konnte, dann einer von jenen Hotel-Bediensteten, die man selten wahrnimmt, Pagen etwa, die Autos umparken oder dem Gast die Tür aufhalten. Keiner realisiert so recht, dass sie da sind, deshalb hören und sehen sie auch Dinge, die sie nichts angehen. Noch während ich nachdachte, bat man mich darum, die Zigarette zu löschen. Ich stand vor der Hoteltür und der Page öffnete sie nicht, lächelte mich nur freundlich an.
„Was? Oh, ach so, Sie sind der, mit dem ich reden wollte. Was sind das für Leute da drüben und was haben die gegen die Veranstaltung hier?“

Er lächelte stur weiter, bis ich mich ausgewiesen und den Grund für mein hier sein genannt hatte. Edwards, so hieß der Junge, hatte viel zu erzählen, erst wollte er gar nicht und dann wollte er nicht mehr aufhören zu erzählen. Er schwärmte von den Kostümen und wie nett doch alle waren und erst das Buffet … Ich unterbrach ihn inmitten seiner Rede und bat ihn, das Ganze am nächsten Tag im Revier zu Protokoll zu geben. Ein wenig geknickt darüber, nicht weiter schwärmen zu dürfen, teilte er mir mit, wann ich ihn abholen lassen könnte. Freundlich bedankte ich mich und ging wieder ins Hotel. Einmal mehr wünschte ich mir Jack herbei, er konnte alles immer so gut protokollieren. Mein Geschmiere auf dem Block reichte gerade aus, um die wichtigsten Namen zu notieren, damit ich Niemanden vergaß.

Im großen Veranstaltungssaal war es inzwischen voll geworden und der Hoteldirektor tat sein Bestes, die Leute zu beruhigen und die Lage zu erklären. Gemütlichen Schrittes ging ich zur Bühne und leistete ihm Gesellschaft.

Erleichtert sah er, dass ich pünktlich war und ihm helfen konnte. Kaum hatte er mich vorgestellt und mir das Wort übergeben, verschwand er von der Bühne. Mir blieb also nichts anderes übrig, als die Leute anzusprechen. Ich erläuterte ihnen den Stand der Dinge und sprach von ihrem vermissten Kameraden, einem möglichen Mord und dem plötzlichen Verschwinden. Zeitgleich ließ ich das ausgedruckte Foto durch die Reihen gehen und hörte mir an, was die Leute zu fragen oder zu sagen hatten. Es war alles dabei, panische Nachfragen, ob er tot sei, Bemerkungen wie „Kenn‘ ich nicht“ oder „Er war ein feiner Kerl, hoffentlich lebt er noch“ bis zur verständlichen Frage „Bin ich der Nächste?“. Alles in allem kam ich so nicht weiter. Ich dankte den Anwesenden und ging müde aus dem Veranstaltungssaal in Richtung der Hotelbar. Enttäuscht über den mangelnden Fortschritt bestellte ich mir mein Leibgetränk, das ich immer dann trinke, wenn es nicht so läuft, wie ich es mir vorgestellt habe, Orangensaft, Trunk der Sonne und der Heiterkeit. Ich beobachtete noch ein wenig das Treiben in der Bar, fand aber nichts, was ein Bleiben hätte rechtfertigen können. So entschied ich mich nach einer halben Stunde zu gehen. Gemächlich schritt ich durch die Hotellobby in Richtung Ausgang. Der Hoteldirektor kam mir bei meinem Weggang seltsam erleichtert vor, aber welcher Hotedirektor ist nicht erleichtert, wenn die Polizei das Haus verlässt. Draußen angekommen, stand ich an meinem Auto und lehnte mich an den Kotflügel, während ich gemütlich rauchte. Es war spät, sogar die Demonstranten waren gegangen. Es war ruhig. Sogar im Lärm der Großstadt gibt es eine gewisse Ruhe, selten, aber doch möglich. Heute war so ein Abend, trotz des Lärms kam er mir friedlich vor. Irgendwo in der Nähe klapperten Mülltonnendeckel und erschreckten mich. Einen Moment lang hielt ich den Atem an und lauschte. War da jemand, fragte ich mich. Kurz darauf war eine jaulende Katze zu hören, dann kehrte wieder Ruhe ein. Für einen Moment hätte ich schwören können, es läge etwas Bedrohliches in der Luft. Ich hatte wie üblich meine Dienstwaffe im Revier gelassen, ich hasste diesen knallenden Todbringer und war froh, wenn ich ihn nicht bei mir hatte. Ich stieg in mein Auto und fuhr nach Hause. Müde und auch enttäuscht darüber, dass ich der Aufklärung kaum näher gekommen war, nahm ich mir ein Bier aus dem Kühlschrank und setzte mich in meinen Lieblingslederohrensessel. Am nächsten Tag würde ich den Chief um Hilfe bitten. Mit etwas Glück konnte ich vielleicht Jack bekommen, aber bis dahin war noch viel Zeit. Während ich nachdachte, trank ich die Dose aus und wollte sie mit einem gekonnten Wurf in den Mülleimer befördern. Das Klappern verriet mir, dass ich verfehlt hatte. Das war das erste Mal in vier Monaten, dass mir das passierte. Ärgerlich ging ich um die Bar herum, bückte mich nach der Dose und bemerkte dabei, dass der Mülleimer nicht da stand, wo er sonst stand. Verdammt, ich hatte der Putzfrau schon oft gesagt, sie möge bitte nichts umräumen. Verärgert warf ich die Dose in den Mülleimer, stellte ihn wieder an seinen Platz und ging schlafen.

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